Page 80 - Weiss, Jernej, ur. 2020. Konservatoriji: profesionalizacija in specializacija glasbenega dela ▪︎ The conservatories: professionalisation and specialisation of musical activity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 4
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konservator iji: profesionalizacija in specializacija glasbenega dela

mehrnational, dementsprechend mehrkonfessionell und „mehrtraditio-
nell“ (auch im Sinne der Musikkultur) war. Es führte unentbehrlich dazu,
daß diese verschiedenen Traditionen miteinander zusammenwirkten, ei-
nander beeinflussten, auch im Gebiet der Musikausbildung (z. B. im Re-
pertoire, im Lehrkreis, insofern in derselben Institution die Vertreter ver-
schiedener Nationalschichten nebeneinander wirkten). Aber es bedeutete
gar nicht, daß eigene nationale Musiktraditionen in der Ausbildungspra-
xis vernachlässigt sind und den allgemeinen künstlerischen und weltan-
schaulichen Werten der Metropolie absolut untertan sind. Genau umge-
kehrt, eigene geistliche Ideale sind noch sorgfältiger gepflegt, das Kulturgut
anderer Völker und vor allem die Kultur der Hauptstadt Wien diente für
die wechselwirkende Bereicherung und den Fortschritt jeder von nationa-
len Traditionen. Am Lemberger Konservatorium des Galizischen Musik-
vereins (GMV), welches 1853 offiziell gegründet wurde, obwohl viel älter
als Lehranstalt funktionierte (etwa 1844 als die Musikschule mit mehreren
Fächern), sah dieser Prozeß so aus, daß ein Korpus von Pädagogen in der
zweiten Hälfte des XIX Jh. die Vertreter verschiedener Nationalitäten bilde-
ten: der erste Direktor – der österreichische Pianist und Komponist franzö-
sischer Herkunft Johannes Ruckgaber, sein Nachfolger, Armenier, Pianist
und Komponist Karol Mikuli, der bei Chopin studierte, dementsprechend
als polnischer Musiker sich identifizierte; zahlreiche Polen, u. a. der Sänger
Waleri Wysocki und der nächste Direktor Mieczysław Sołtys, der italieni-
sche Sänger Luigi della Casa, der slowenische Dirigent und Komponist Fran
Gerbič, der tschechische Organist und Komponist Rudolf Schwarz, wirkte
der Ukrainer Anatol Wachnianyn mit u. m. a. Nicht minder bunt war auch
die Liste von Studenten. Darüber hinaus sollte man besonders betonen, daß
das Konservatorium am GMV wie auch andere Musiklehranstalten in der
Stadt waren nie antisemitisch, z. B. bei Mikuli studierten solche Pianisten
und Pianistinnen wie Moriz Rosenthal, Kornelia Parnas-Löwenherz, Klara
Gescheles, bei Wysocki – Joseph Mann, Roza Cudek u. a., hier arbeitete der
Theoretiker Seweryn Barbag.

Diese langjährige national-kulturelle Verschmelzung bedingte man-
che feste Traditionen der Musikausbildung im Land, die für nächste Ge-
nerationen auch gültig werden, wie die Toleranz der Pädagoge und Stu-
denten abgesehen von nationaler Herkunft (man sagt oft bis heute, daß am
Lemberger Konservatorium nur eine Nationalität man berücksichtigte –
das Talent); das Interesse für breiten Kreis von verschiedenen nationalen
Leistungen, die nicht nur in den großen Kulturzentren entstanden, son-

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