Page 48 - Weiss, Jernej, ur. 2020. Konservatoriji: profesionalizacija in specializacija glasbenega dela ▪︎ The conservatories: professionalisation and specialisation of musical activity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 4
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konservator iji: profesionalizacija in specializacija glasbenega dela

sind aber distanziertere Bach-Deutungen zu finden. So schreibt Kurt Weill,
Bachs Werk sei „von höchster Zweckmäßigkeit. Deswegen (nicht trotzdem)
bewahrt es ein einzigartiges Niveau.“.24 Auch die Kirchenmusikalische Er-
neuerungsbewegung befleißigte sich eher „heiliger Nüchternheit“. Gemein-
sam war den unterschiedlichen Gewichtungen das Bild von Bach als Urva-
ters der deutschen Musik, wie es sich seit Nikolaus Forkels Bach-Buch aus
dem Jahre 1802 herausgebildet hatte. In der Notsituation nach dem Ersten
Weltkrieg erhielt es eine geradezu apologetische Überhöhung, die deutsche
Musik und ihr Urvater Bach erschienen als Retter der Nation aus der Ka-
tastrophe. In diesem Sinne waren Bach-Feste weniger kulturelle Ereignisse
als nationale Kundgebungen mit religiösem Anspruch, Leipzig mit seinem
Konservatorium bildete dafür einen Kristallisationspunkt.

Denn gerade die in Leipzig erscheinenden Musikzeitungen verbreite-
ten dieses Bild über Europa hinaus. In der Zwischenkriegszeit geschah dies
vor dem düsteren Panorama äußerer und innerer Not. Georg Göhler,25 Ab-
solvent des Leipziger Konservatoriums und Leipzig u. a. als Autor der (Neu-
en) Zeitschrift für Musik vielfach verbunden, stellte einen direkten Zusam-
menhang her: „Die innere Ursache der Notlage der deutschen Musik ist der
sittliche Zustand des Volkes, die herrschende Lebensauffassung.“26 Nicht ge-
ringen Schaden habe die Überschätzung von Richard Strauss verursacht,
die inneren Ursachen der Notlage aber müssten überwunden werden durch
sittliche Erneuerung, die „äußeren Ursachen [würden] einzig und allein ge-
tilgt durch die Beseitigung des Friedensvertrages von Versailles.“ Und noch-
mals erwähnt er den tief sitzenden Stachel, dem das Unheil zugeschrieben
wurde (man wagt kaum zu fragen, was dies mit Musik zu tun habe):

Ist das deutsche Volk unfähig zur sittlichen Erneuerung und zur
Einigkeit, die die Revision des Versailler Vertrages erzwingt, dann
hat auch für die deutsche Musik als Weltmacht die letzte Stunde
geschlagen.27

Im gleichen Heft der Zeitschrift für Musik ruft Rudolf Cahn-Speyer dazu
auf, die Notlage der Musiker durch Beitritt zum Verband konzertierender

24 Ibid., 267.
25 Zur Person Georg Göhler aus zeitgenössischer Sicht siehe Zeitschrift für Musik 88

(1921): 495.
26 Georg Göhler, „Die Notlage der deutschen Musik“, Zeitschrift für Musik 88 (1921):

487.
27 Ibid., 489.

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