Page 91 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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hugo wolf in perchtoldsdorf: uber die mörike-lieder
Wolf hat das Sujet angesprochen, denn es gehört zu seinen ersten Mörike-Ver-
tonungen in Perchtoldsdorf. Möglicherweise hat die Umgebung des Wohn-
hauses mit ihren Weinbergen an seine slowenische Heimat erinnert. Sie ist
der schwäbischen Landschaft verwandt, die Mörike zu seinen Versen inspiri-
ert hat. Angeregt wurde er sicherlich durch die wechselnden Situationen und
Stimmungen des Textes zwischen Erzählung und Dialog, die ihm die Mögli-
chkeit zu einer abwechslungsreichen Musik boten.

Das Lied ist, dem Text entsprechend, in vier große Teile gegliedert.40
Die Strophen 1-2 bringen eine Beschreibung des Orts und der Ausgangssitua-
tion (Musik A). Es folgt der Dialog zwischen dem Knaben und dem Imm-
lein: Strophe: 3 Knabe (Musik B), Strophen 4-6: Immlein (Musik C), Stro-
phe 7: Knabe (Musik B). Das Tongeschlecht in den beiden Anfangsstrophen
ist Moll. Es charakterisiert die Idylle und träge Atmosphäre an einem schwü-
len Sommertag. Mit Beginn des Dialogs wechselt das Tongeschlecht bis zum
Schluß nach Dur.

Die Vertonung setzt ohne Vorspiel »leise« im pp und im Vortrag »mä-
ßig, zart« ein (NB 1).41 Aber die Begleitung in den Takten 1-4 hat den Cha-
rakter einer polyphonen Einleitung. Erst in der 2. Strophenhälfte festigt sich
eine homophone Satzstruktur. Der Gesang beginnt, der Syntax entsprechend,
mit einem Auftakt volksliedhaft einfach in langsamer Viertelbewegung. Die
Melodie wird gleichzeitig vom Klavier vorgetragen und mit Terzen bzw. Sex-
ten begleitet. Nach einem Takt erklingt dazu, durch an- und abschwellende
Dynamik ausdruckvoll nuanciert, eine Imitation in der Unterquarte. Diese
polyphone Stimme ist zunächst um den Schlußton verkürzt und führt damit
offen zur Dominante. Das Motiv erscheint danach im Gesang leicht verän-
dert und am Ende durch eine Punktierung belebt. Diese musikalische Ent-
wicklung, die sich vom volksliedhaft Einfachen allmählich entfernt, wird ab
Takt 5 chromatisch differenziert. Sie führt zum homophonen Abschluß der
1. Strophe in tieferer Klanglage und mit verlangsamter Bewegung. Damit und
auch durch den Vorschlag im Gesang wird das Wort »lang« ausgedeutet und
insgesamt die ruhige und träge Stimmung an diesem heißen Tag eingefan-
gen. Die Ankunft des Immleins illustrieren im Klavier Triller in hoher Lage
(T. 13ff.). Sie sind als neue Klangschicht über die bisherige Motivik gesetzt.
Mit den syllabisch vertonten Worten des Knaben setzt im Takt 20 eine neue

40 Hugo Wolf, „Gedichte von Eduard Mörike für eine Singstimme und Klavier, vorgelegt von Hans
Jancik“, Hugo Wolf, Sämtliche Werke, 1 (Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag, 1963), 5-10.

41 Im Autograph A, der ersten zusammenhängenden Niederschrift der Lieder (Musiksammlung
der Österreichischen Nationalbibliothek Mus. Hs. 19581, fol 4r) steht noch »Ziemlich langsam,
zart«.

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