Page 97 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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»[D]ie Worte [...] schienen
noch zu wachsen«

»Metrische« Synkopen in Hugo Wolfs
Mörike-Liedern

Hartmut Krones, Dunaj/Wien

Da öffnete sich die Thüre und aus dem anderen Zimmer erschien uns, in einem langen,
langen Hemde, Hugo Wolf, eine Kerze und ein Buch in der Hand [...]. Er lachte schrill
und verhöhnte uns. Dann trat er in die Mitte und schwang die Kerze, und während
wir uns auszogen, begann er uns vorzulesen, meistens aus der Penthesilea. Dies hatte aber eine sol-
che Kraft, dass wir schweigend wurden und uns nicht mehr zu regen wagten; so gross war es, wenn
er redete. Wie ungeheure schwarze Vögel rauschten die Worte von seinem blassen Munde und
schienen noch zu wachsen [...]. Bis er plötzlich wieder lachte und uns verhöhnte [...]. Wir aber sas-
sen noch lange auf, während es dämmerte, und spürten es geheimnisvoll um uns wehen und wus-
sten, dass ein grosses Wesen bei uns gewesen war ...

Ich habe in meinem Leben niemals mehr so vorlesen hören. Es lässt sich nicht beschrei-
ben. Ich kann nur sagen: wenn er sie aussprach, nahmen die Worte eine ungeheure Wahrheit
an, sie bekamen Körper, ja wir hatten das Gefühl, als ob sein eigener Leib auf einmal dann zum
Fleisch der Worte geworden wäre, als ob diese Hände, die wir im Dunkel schimmern sahen, kei-
nem Menschen mehr, sondern jetzt den Worten, die wir vernahmen, angehören würden! Er hat-
te sich gleichsam mit seinem ganzen Körper in das Wort des Dichters verwandelt.«

Hermann Bahr, der mit Hugo Wolf einige Zeit in einer Wohngemein-
schaft lebte, war es, der uns von der Faszination berichtete, die Hugo Wolf
mit seinen ,Dichterlesungen‘ verbreitete. Und Bahr empfand dann Wolfs
Vertonungen von Dichterworten sogar als »die natürliche Musik ihrer Ver-
se«, die »von keinem Menschen ,hinzugethan‘ sein« konnte. Und er meinte
abschließend: »Hugo Wolf ist der einzige, der uns die Gedichte nicht entfrem-
det, sondern seine Musik empfinden wir als die eigentliche Natur der Gedichte,
als dasselbe, was sie in Versen sind, als die natürliche Luft, die zu ihnen gehört
und ohne die sie gar nicht leben können.«1

1 Hermann Bahr, “Hugo Wolf “, in Gesammelte Aufsätze über Hugo Wolf, hrsg. vom Hugo Wolf-Ver­
ein in Wien (Berlin: S. Fischer, 1898), IX-XII.

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