Page 101 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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»[d]ie worte [...] schienen noch zu wachsen«

nb 2: »An den Schlaf«, Singstimme T. 5-9.
ßer« beigibt, wodurch die erste auf einen Taktschwerpunkt fallende Silbe die
zweite Nennung von »Schlaf« ist. Durch die Synkopen werden zwar sowohl
das erste »Schlaf« als auch das Wort »süßer« betont, sind aber gleichzeitig
ein dreisilbiger ,Auftakt‘ zur Hauptbetonung »Schlaf« T. 7. Dieses gleich-
sam versteckte ,Wolfsche‘ Metrum wird dann durch die erneute ,auftaktige‘
Behandlung der jeweils drei Silben »obwohl dem«, »wie du nichts«, »auf
diesem«, »-ger doch will-« sowie »-men heiss’ ich« weitergeführt, welche
Bewegung auch in der dritten (»denn ohne«, »-ben so, wie«) Verszeile zu-
nächst bestehen bleibt, ehe extreme, zum Teil wieder synkopische Silben-
Dehnungen zu freierer Deklamation führen.

Hugo Wolf hat in seinen »Gedichten von Eduard Mörike für Sing-
stimme und Klavier« (wie der Original-Titel lautet) insgesamt in einem
hohen Maß mit Synkopen gearbeitet und bereits mit dem ersten Lied,
»Der Genesene an die Hoffnung«, gleichsam seine Absicht kundgetan,
seine Deklamation nicht sklavisch an Metrik und Versmaß auszurichten,
sondern nach eigenen – sowohl inhaltlichen als auch sprachlichen – Ge-
sichtspunkten zu gestalten. Nach dem chromatisch durchwirkten Vorspiel
wird durch die Synkopierung des Wortes »Tödlich« ein deutlicher Ak-
zent gestaltet, wodurch das trochäische Versmaß sowohl in Bezug auf das
Verhältnis von Hebung und Senkung als auch, durch die Dehnung der Sil-
ben »Töd-« und »grau-«, ,quantitativ‘ erfüllt erscheint. Es sind gleich-
sam ,metrische Synkopen‘ (NB 3). Dennoch: Die erste Silbe fällt ebenso-
wenig auf den Taktschwerpunkt wie der 2. Versbeginn: »doch schon [...]«,
wo das hinweisende und einen Gegensatz anzeigende »doch« eine noch
schärfere Synkope darstellt. Vor »wie süss!« schiebt Wolf zudem eine typi-
sche »Suspiratio« ein, einen Seufzer, der das angesichts der »Hoffnung«
auf den »Sieg« aufkommende positive Glücksgefühl versinnbildlicht. Daß
diese Hoffnung durchaus nicht zu einem positiven Ende führen muß (und
dies tatsächlich auch nicht tut), wird durch neuerliche, ebenfalls ,metri-
sche‘ Synkopierungen angedeutet, die eine schwebende, unsichere Rhyth-
mik erzeugen, die erst bei »Sieg gewonnen« kurzzeitig prägnanten Punk-
tierungen Platz macht.

Insgesamt wird in diesem Lied der erste Versfuß der Trochäen in 9 von
16 Fällen nicht volltaktig, sondern synkopisch vertont: »Tödlich«, »doch

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