Page 100 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
Wie sehr Hugo Wolf selbst in seiner Instrumentalmusik von sprachlicher De-
klamation ausging, ersehen wir etwa aus dem synkopierten Eröffnungsthema
(NB 1) seiner symphonischen Dichtung »Penthesilea«, das seiner Rhythmik
nach weder dem fünffüßig jambischen Versmaß von Kleists Dichtung noch
einem kriegerischen Aufbruch entspricht. Wenn wir nun bedenken, daß –
wie wir gleich sehen werden – zahlreiche jambische Liedvertonungen Wolfs
mit einer synkopisch anhebenden, zum nächsten Takt übergebundenen und
somit den Jambus (erst) nachträglich herstellenden Anaklasis beginnen, so
könnte durchaus auch das »Penthesilea«-Thema wortgezeugt sein. Inhaltli-
che Überlegungen7 weisen hier eindeutig auf die Worte der sterbenden Ot-
rere, die im 15. Auftritt des Kleistschen Dramas den Anstoß zum »Auf-
bruch der Amazonen nach Troja« gibt: »(Sie sagte:) ,Geh, mein süßes Kind!
Mars ruft dich! / Du wirst den Peleïden dir bekränzen‘«. Der erste Vers der
Worte Otreres entspricht voll und ganz dem Duktus des Eröffnungsthemas:
»Geh«, »sü[-ßes]«, »Kind« und »Mars« erhalten synkopische Betonun-
gen, »Mars« und »dich« diastematische Akzente, und das »ruft« wird
durch einen (akzentgebenden) punktierten Rhythmus dargestellt.

In dem frühen d-Moll-Streichquartett hinwiederum, dem Wolf selbst
den Titel »Entbehren sollst du, sollst entbehren« beigab, könnte der kan-
table Gedanke (Takt 20ff.) des »Grave« (1. Satz) aus dem Duktus der Wor-
te »Entbehren sollst du, entbehren« (ohne zweites »sollst«) gewonnen wor-
den sein. Und auch die folgenden Fortspinnungen (T. 22ff.) entsprechen voll
und ganz möglichen Deklamations-Rhythmen des Wortes »entbehren«.8
– Schließlich sei auf die ,deklamatorische‘ Gewinnung des Klavier-Beginns
des Mörike-Liedes »An den Schlaf« (Nr. 29) hingewiesen, dessen erste zwei
Takte deutlich die Prosa-Deklamation des über dem Notentext stehenden la-
teinischen Vorbilds (bzw. Originals) von Heinrich Meibom (1555-1625) dar-
stellen: »Som-ne le-vis !« Und möglich wäre sogar, daß auch die Synkope des
Taktes 3 auf dem (dann allerdings ,metrisch‘, als Hexameter gelesenen) Text
(»Quamquam«) gründet.

Diese Synkope könnte allerdings auch auf der grundsätzlich jambi-
schen Bewegung des deutschen Textes basieren, in der zwar das ,eigentlich
unbetonte‘ erste Wort »Schlaf« eher betont wirkt (als Anaklasis), aber keine
wirkliche Hebung darstellt (NB 2). Drückt Hugo Wolf dieses erste »Schlaf«
doch durch eine gedehnte Synkope aus, die er sodann auch dem Wort »sü-

7 Siehe Hartmut Krones, “„Er hatte sich gleichsam mit seinem ganzen Körper in das Wort des
Dichters verwandelt!“ Hugo Wolfs „Penthesilea“ als Musik gewordene Dichtung“, in Hamburg­ er
Jahrbuch für Musikwissenschaft 13, hrsg. Constantin Floros et al. (Laaber: Laaber, 1995), 201-221.

8 Hiezu siehe Hartmut Krones 2007 (Anm. 5), 84f.

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