Page 197 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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die londoner oper des 19. jahrhunderts als manifestation musikalischer migration

Fazit
Die hier besprochenen Beispiele aus zwei unterschiedlichen Aufführun-
gskontexten des Londoner Opernmarkts des 19. Jahrhunderts dienten
dazu, die in London aufgeführten Werke als Produkt musikalischer Migra-
tion zu veranschaulichen, indem fremde Werke auf ihre spezifischen Rollen
in einem neuen ästhetischen und soziokulturellen Umfeld untersucht und
dementsprechende Adaptionen ausgemacht wurden. Innerhalb dieses Be-
deutungshorizonts kann aber wiederum die Art musikalischer ­Migration
differenziert werden:

Bei den Adaptionen des Don Giovanni für die englischen Theater han-
delte es sich um ein Anpassen an die unmittelbaren Aufführungsbedin-
gungen und ästhetischen Konventionen der englischen Bühne als eine
Reaktion auf die erfolgreiche Aufführung des Don Giovanni an der itali-
enischen Oper im King’s Theatre. Die Differenzen der besprochenen Pro-
duktionen sind vornehmlich durch ihren unterschiedlichen Verwendungs-
zweck zu erklären: Diente die Version Bishops dazu, eine englische Version
des Don Giovanni vor dem Hintergrund des Melodramas zu schaffen, so
handelte es sich bei Don Giovanni in London um eine Parodie des Stoffs, die
musikalisch nur rudimentäre Ähnlichkeiten zur italienischen Oper hatte.
In jedem Fall diente die italienische Aufführung am King’s Theatre als Re-
ferenzpunkt.

Bei den Adaptionen französischer Opern stand das Anpassen an ein
fiktives ästhetisches Ideal der italienischen Oper im Vordergrund, das sich
vor allem in Hinblick auf das Ballett manifestierte. Da das Ballett nach ei-
ner Opernaufführung in der italienischen Oper Londons einen integralen
Bestandteil des Opernabends bildete, konnte damit in Einzelfällen, wie bei
Il Prodigo, flexibel verfahren werden, wogegen in anderen Fällen, wie bei
Gli Ugonotti, das italienische Kolorit durch ein Streichen der Ballette er-
reicht wurde, um nach der Oper Ballette aufführen zu können. Ein voll-
ständiges Eliminieren des Balletts war aufgrund der Vorlieben des Lon-
doner Publikum prinzipiell schwer möglich.

Als ein äußerst komplexer Fall musikalischer Migration kann schließ-
lich Webers Oberon gelten: Hier wurde versucht das englische Kolorit vor
dem Hintergrund kompositorischer Authentizität bei der Transformati-
on des Werks in eine italienische Oper beizubehalten. Die dramaturgische
Schwerpunktverschiebung zu Gunsten der Sänger und ihrer Arien kann
dabei als das Ideal des Londoner Opernpublikums in Hinblick auf die ita-

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