Page 195 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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die londoner oper des 19. jahrhunderts als manifestation musikalischer migration

hand der Auswahl der Einlagearien ersehen lässt. So entschied sich Bene-
dict, wie bereits bei den Rezitativen, musikalisches Material aus der bei-
nahe zeitgleich zum Oberon entstandenen Euryanthe zu substituieren, um
den Charakter eines einheitlichen Werks von Weber zu suggerieren. Dabei
wurde abermals im Vorwort zum italienischen Libretto angegeben, dass
die gewählten Einlagen – im Besonderen allerdings die Einführung eines
Duetts – ganz im Sinne Webers gewesen seien. Bei besagtem Duett han-
delte es sich um „Hin nimm meine Seele mein“ aus Euryanthe, das unter
dem Titel „A mia bel anima“ Eingang in den zweiten Akt des Oberon fand.
Zusätzlich entschied sich Benedict für die Einlage von „Wehen mir Lüfte
Ruh“ als „Tutto e ridente bel“ aus der dritten Szene des zweiten Aktes der
­Euryanthe in die Partie des Huon.21

Als eine weitere Einlage bzw. als Wiederaufnahme kann auch die Arie
„From boyhood trained in battlefield“ („Appena in lui uscia ragion“) ge-
nannt werden. Diese Arie war ein Teil der Partie des Huon des ursprüng-
lich englischen Oberon. Wegen Vorbehalten von John Braham, dem ersten
Sänger dieser Partie, war das Stück nicht Teil der englischen Urauffüh-
rung 1826 gewesen. Nunmehr fand es begründete Aufnahme in die Par-
tie des Oberon. Schließlich stellte „From boyhood trained in battlefield“
von seiner musikalischen Anlage her eine gute Möglichkeit zur Darstel-
lung der vokalen Virtuosität des ausführenden Sängers dar – eine Chan-
ce, die der Sänger der Wiederaufnahme 1860, Buenaventura Belart, nur all-
zu gerne aufgriff. Zudem stellte die Erweiterung der Partie des Oberon um
die besagte Arie das quantitative Gleichgewicht zwischen den beiden Ten-
orpartien Huon und Oberon wieder her. Belart als Oberon hätte vor der
A­ daption eine Arie weniger zu singen gehabt als Pietro Mongini in der Par-
tie des Huon – eine Tatsache, die für einen Sänger nicht leicht zu akzeptie-
ren war und somit gelöst wurde.22

Eine weitere bedeutende Änderung betraf die dramatisch zweitran-
gige Partie der Roschana, die im englischen Oberon als reine Sprechrol-
le konzipiert war, was in einer italienischen Oper natürlich nicht beibehal-
ten werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass man, falls man diese Rolle
nicht streichen wollte, neue Musik für die Roschana einführen musste, ob-
wohl die Figur nur im vierten Akt auftrat. Wenig überraschend fungierte
hier wiederum Euryanthe als Spender – in diesem Fall nämlich die Arie der

21 Für die musikalischen Änderungen vgl. Zechner, „Das englische Geschäft mit der
Nachtigall“, 200–205.

22 Vgl. ebd., 203.

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