Page 135 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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Antonio Lolli
– auf der Route Bergamo–Stuttgart
– Sankt-Petersburg–Neapel

Vladimir Gurevich
Ruska državna pedagoška univerza Aleksander Hercen v Sankt Peterburgu

Alexander Herzen-State Pedagogical University, Saint-Petersburg

Held der nachfolgenden Erzählung ist ein Geigenvirtuose. Solche gab es in
der Geschichte der europäischen (und, selbstverständlich, russischen) Mu-
sikkunst des XVIII. Jahrhunderts nicht wenige, wobei fast jeder von ihnen
eine außergewöhnliche Persönlichkeit darstellte (in Russland erinnern wir
uns an Luigi Madonis, der an der Palastrevolution 1741 teilnahm, oder an
Pietro Mira, der das Geigenspiel mit der Stelle des Hofnarren von Anna Io-
annovna kombinierte). Aber sogar vor dem Hintergrund des Draufgängers
Louis Paisible, der sich bis zum Bankrott und Selbstmord „konzertierte“
oder des verwegenen Virtuosen und Liebhaber anregender Getränke Tito
Porta (dafür und für anderes von Peter III. geschätzt) hebt sich unsere Fi-
gur durch eine besondere Position hervor. Antonio Lolli war eifrig damit
beschäftigt, seinen Lebensunterhalt immer und überall zu verdienen. Die-
ser Weg führte ihn nach Russland, das unter dem Zepter von Katharina
der Großen gedeihte. Seine abenteuerlichen Gewohnheiten legte er nicht
ab und, wie wir weiter unten sehen, verdiente er nicht gerade wenig Geld,
sich nicht überarbeitend im Geigenspiel, sondern im Kartenspiel. Aber das
ist ein anderes Thema. Hauptgrund meines Vortrages ist, dass er ein be-
gnadeter Musiker war, der teuflisch talentiert und offen für alles Neue war.
In Russland und in den Russen fand er nicht nur leidenschaftliche Vereh-
rer seines künstlerischen Könnens. Er hörte als einer der Ersten in Europa
in der russischen Musik, im russischen Volkslied nicht die „barbarische“
Exotik – als Grund für eine amüsante Variabilität, sondern sah etwas Grö-
ßeres: die Tiefe, das Reine und die Schönheit. Dieses verstehend, versuchte

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