Page 105 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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»[d]ie worte [...] schienen noch zu wachsen«

nb 5: »Erstes Liebeslied eines Mädchens«, Singstimme T. 105-116.
stische Nachzeichnung erführe. Wie drückte sich Wolf am 5. Juni 1890 Emil
Kauffmann gegenüber doch selbst aus?
Oberstes Prinzip in der Kunst ist mir strenge, herbe, unerbittliche Wahrheit,

Wahrheit bis zur Grausamkeit. Kleist z. B. – Wagner immer obenan – ist mein
Mann. Seine wunderherrliche Penthesilea [...]. Und selbst Mörike, dieser Liebling
der Grazien ! zu welchen Excessen läßt seine Muse sich hinreissen, wenn sie der
dämonischen Seite der Wahrheit ihr Antlitz zukehrt ! das ,erste Liebeslied eines
Mädchens‘ bietet ein treffendes Beispiel hierfür.16
Wolfs erster Biograph Ernst Decsey faßte seinen Eindruck von den de-
klamatorischen Unregelmäßigkeiten (und Ausbrüchen) des Liedes folgender-
maßen zusammen:
Und vor der Melodie immer eine Pause: der erregte Atem des Mädchens. Und nie
findet das Motiv ein Ende [...]. Zum Schlusse rast es wie besessen. Dem Mädchen
glühen die Wangen, die Augen begehren. Die vier Takte des Motivs werden hal-
biert, die Rhythmen durcheinander geworfen: wütender dionysischer Liebesrausch.
Das ist ,Jugend‘ in nuce.17
Sehr regelmäßig ist das jambische Versmaß des Gedichtes »Per-
egrina I« (Nr. 33), das im 2. Teil von Mörikes »Maler Nolten« den Titel
»Warnung« trägt: immer fünffüßig, mit abwechselnd »weiblichem« und
»männlichem« Ende; lediglich der letzte Vers ist – entgegen dem ansonsten
üblichen Wechsel – »weiblich«. Möglich (sogar wahrscheinlich) wäre es al-
lerdings, daß Mörike den dritten Vers, »tief aus dem Busen scheint er’s anzu-
saugen«, als Anaklasis mit Anfangsbetonung dachte. Wolf beginnt nun die
ersten fünf Verse ‚jambisch‘ mit einer Achtelpause auf die erste Schlagzeit,
wodurch die metrisch betonte zweite Silbe auf die zweite Schlagzeit fällt und
,relativ betont‘ erscheint. Aber auch Wolf vermutet offensichtlich, daß »tief
aus dem Busen« eher eine Anaklasis darstellt, und so versieht er das Wort

16 Spitzer, op. cit., 366.
17 Decsey, op cit., 83f.

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