Page 104 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes

nb 4: »Erstes Liebeslied eines Mädchens«, Singstimme T. 1-18.
wodurch die Hauptaussage eine besonders deutliche Dehnung im Sinne ei-
nes »Intensitätsfaktors«14 erfährt. Trotzdem sind die (metrisch vorhande-
nen) Trochäen nicht ,schulmäßig‘ volltaktig in Musik gesetzt, da durch die
synkopische Gestaltung wohl des Mädchens »Ratlosigkeit« bzw. ihr »Ban-
gen vor der Zukunft«15 Darstellung finden soll.

Im zweiten, jambisch-anapästischen Teil des Gedichtes, für den Wolf
die Grundtonart A-Dur zugunsten von (jeweils chromatisch-modulatorisch
geschärftem) E-Dur (bzw. e-Moll), As-Dur und C-Dur und (kurz) Des-Dur
verläßt (ehe er mit dem letzten Vers – für das Nachspiel – wieder A-Dur er-
reicht), hält er sich in gleichsam extremer Form an die vorgegebene metri-
sche Bewegung: »Schon schnellt mir’s in Händen !« usw. ist immer auftak-
tig, der Anapäst – mit Ausnahme der Dehnung des Schlüsselwortes »Liebe«
– immer mit drei Achtelnoten deklamiert. Für die Anaklasis »Gift« (es ist
nicht anzunehmen, daß Mörike »Gift muß ich haben« jambisch dachte) be-
hält er sogar die auftaktige Bewegung bei (NB 5), gibt ihr durch die synko-
pische Ligatur aber gleichsam ebenfall jambisch-anapästisches Gefüge; wenn
man so will, ,korrigiert‘ er Mörikes Anaklasis durch die metrische Betonung
»Gi-ift muss ich haben !« Mörikes nächsten, regelmäßig jambisch-anapäs-
tischen Vers »Hier schleicht es herum« betont er dann tatsächlich volltak-
tig, um das »Hier« demonstrativ hervorzuheben, und das gleichsam zwangs-
läufig ,mitbetroffene‘ Wort »schleicht« wird ebenfalls gedehnt, um im Takt
112 gemäß den übrigen Versen wieder einen von drei Achtelnoten gebildeten
Anapäst bilden zu können. Es kann aber auch nicht von der Hand gewiesen
werden, daß sowohl die Takte 107 und 108 als auch 111 und 112 als Hemiolen
gedacht sind, durch welchen (aus zwei kleinen ,Dreiern‘ gebildeten) ,großen
Dreier-Takt‘ das langsame »Schleichen« des »Giftes« eine geradezu reali-

14 Georg Bieri, Die Lieder von Hugo Wolf (Bern–Leipzig: Haupt, 1935), 37f.
15 Bieri, op. cit., 88.

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