Page 103 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
P. 103
»[d]ie worte [...] schienen noch zu wachsen«

cher, daß Anton Tausche bei seinen eigens an Sänger gerichteten Betrachtun-
gen über die Mörike-Lieder den Synkopenreichtum dieses Liedes erstmals (!)
beim Zwischenspiel des Klaviers (!) nach der 3. Strophe erwähnt (»erklingen
wie von Holzbläsern geblasen synkopische Seufzer«) und ihn dann bei »wie
ein Kind und sonder Harm« (Vers Nr. 14) als »sich wie hilflos ineinander-
schiebende Synkopen«10 bezeichnet. Der Aspekt der hier notwendigen speziel-
len Deklamation, die dem Komponisten immer besonders wichtig war, bleibt
hingegen unerwähnt.11

Ähnlich verfährt Hugo Wolf in »Erstes Liebeslied eines Mädchens«
(Nr. 42), das er am 20. März 1888 verfaßte und von dem er Edmund Lang so-
fort begeistert berichtete:
,Erstes Liebeslied eines Mädchens‘ (Ed. Mörike) ist das weitaus beste, was ich bis

jetzt zu Stande gebracht. Gegen dieses Lied ist Alles Vorhergegangene Kinder­spiel.
Die Musik ist von so schlagender Charakteristik, dabei von einer Intensität, die das
Nervensystem eines Marmorblockes zerreissen könnte. Das Gedicht ist wahnsin-
nig, die Musik nicht minder u. ebenso Ihr Fluchu.12
Mörike wählte für dieses Gedicht zunächst vier- bzw. dreifüßige Trochäen
(»Was im Netze ? Schau einmal ! / aber ich bin bange:«), ehe er ab »Schon
schnellt mir’s in Händen ! / ach Jammer ! o Lust !« zu jambisch-anapästi-
schen Metren griff. Lediglich der Beginn des Verses »Gift muss ich haben
!« wurde von ihm, als Anaklasis, betont. – Wolf hingegen befindet zunächst
»Netze« und »[ein-]mal« wichtiger als »Was« und »Schau« und ver-
tont die knappen Sätze als zweisilbige Auftakte, sozusagen anapästisch, wo-
bei Frage und Antwort in bester Tradition als aufsteigende »Interrogatio«13
bzw. kadenzartige Schlußformel gestaltet sind (NB 4). »Aber ich bin ban-
ge« sieht er dann offensichtlich tatsächlich trochäisch, wie die ,quantitieren-
de‘ Betrachtung der Deklamation nahelegt, verhalten sich Hebung und Sen-
kung von »aber« und »ich bin« doch wie 3:1, von »bange« sogar wie 6:1,

10 Anton Tausche, Hugo Wolf ’s Mörikelieder in Dichtung, Musik und Vortrag (Wien: Amandus, 1947),
20f.

11 Vgl. auch Paul Müllers Bericht über Hugo Wolfs eigenen Vortrag seiner Lieder: “Ein neuer Lie-
derkomponist“, in Hannoverscher Courier 1894, No. 19241, zit. nach Gesammelte Aufsätze über Hugo
Wolf (Anm. 1), 55f.

12 Spitzer, op. cit., 266. »Fluchu« ist Wolfs Spitzname.
13 Zu den musikalisch-rhetorischen Figuren und ihren Bedeutungsfeldern siehe u. a. Hartmut Kro-

nes, “Musik und Rhetorik“, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG] 2. Sachteil 6, hrsg.
Ludwig Finscher (Kassel etc.: Bärenreiter, 1997), 814-852; Hartmut Krones, “Musikalische Fig-
urenlehre“, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5, hrsg. Gert Ueding (Tübingen: Niemey-
er, 2001), 1567-1590; Dietrich Bartel, Handbuch der musikalischen Figurenlehre [1985], 5. Auf lage
(Laaber: Laaber, 2007).

101
   98   99   100   101   102   103   104   105   106   107   108