Page 106 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes

nb 6: »Peregrina I«: Singstimme T. 1-6.
»tief« mit einer Dehnung, wodurch es als betonte Synkope wirkt. Um aber
Mörike für den Fall, daß er die Deklamation des dritten Verses doch »tief aus
dem Busen [...]« (also jambisch) gedacht hatte, in gleicher Weise gerecht zu
werden, gestaltet er das Wort »aus« ebenfalls als Synkope. ,Normal‘ betont
sind dann »Busen« und »scheint er’s«. Sei es, daß er angesichts der bisheri-
gen zwei Synkopen diesen Vers aus musikalischen Gründen sozusagen ,total
synkopisch‘ zu gestalten gedachte, sei es (und das ist wahrscheinlicher), daß
er den Inhalt des Wortes »anzusaugen« gleichsam ,bildlich-akustisch‘ dar-
stellen wollte, jedenfalls versieht er das letzte Wort dieses Verses, »anzusau-
gen«, mit einer doppelten Synkope und betont es dadurch deutlich. Für seine
,inhaltliche‘ Intention spricht auch, daß Wolf das letzte Wort des ersten Ver-
ses, »Augen«, ebenfalls synkopisch vertonte, um dieses Schlüsselwort deut-
lich hervorzuheben, wodurch sich am Ende der Verse 1 und 3 eine symmetri-
sche Deklamation ergibt.

Auch diese Symmetrie könnte gestalterische Absicht des Komponi-
sten gewesen sein, in diesem Fall aber (zudem) eine strukturelle bzw. ,metri-
sche‘. Denn eine weitere Symmetrie bilden die Dehnungen, die Wolf den in-
haltlich wichtigsten – jeweils auf der dritten Hebung bzw. im Taktverlauf
auf der vierten Schlagzeit postierten – Worten der Verse 2 und 4 zuteil wer-
den läßt: »Gold« und »heil’gem«. Und betrachten wir die zweite Strophe,
also die Verse 5 bis 8, so ist auch hier jeweils die vierte Schlagzeit (bzw. drit-
te Hebung) durch eine Dehnung um eine Achtelnote in den nächsten Takt
überbunden: »Blickes«, »selber«, »mich« und »Tod«. Obwohl es sich hier
ebenfalls immer um besonders wichtige Worte handelt, scheint uns hinter all
dieser Symmetrie doch auch eine ,metrische Absicht‘ Hugo Wolfs zu stehen,
die durch die Synkopen noch deutlicher, offensichtlicher wird. – Ein zusätz-
licher struktureller Bogen ergibt sich durch die Synkope am Schluß des letz-
ten Verses, »Sünden«, wenngleich es sich hier ebenfalls um eine besonders
wichtiges Schlüsselwort handelt. Und letzten Endes werden auch im Nach-
spiel – mit Ausname des Schlußakkordes – alle (nahezu identischen) Takte
von Synkopen (also gleichsam mit einer Anaklasis) eröffnet, zudem weist der

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