Page 373 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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egon wellesz in wien und oxford: stationen eines lebens

Lieder aus Wien
In der Jännernummer 1956 der Wiener Literaturzeitschrift alpha, einem
»winzigen, aber bedeutenden Literaturblatt für neue Dichtung«31 erschie-
nen erstmals Proben einer aktuellen Dialektdichtung von H. C. Artmann
(1921–2000) und Gerhard Rühm (*1930). Sie wurden eingeleitet durch ein
Manifest. Es beginnt:
„wir haben den dialekt für die moderne dichtung entdeckt. was uns

am dialekt interessiert, ist vor allem sein lautlicher reichtum (be-
sonders im wienerischen), der für jede aussage die typischen nuan-
cen findet, selbst ein einziges wort kann in verschiedenen tönungen
auftreten, also individualisiert sein.“32
Der Kritiker Alfred Schneller überschrieb seine Besprechung im Wie-
ner Neuen Kurier vom 15. März 1956: Neue Dichtung, obses glaum oda ned
[ob Sie es glauben oder nicht]. Moderne Gedichte im Wiener Dialekt; ge-
raunzte33 Variante des schwarzen Hunmors. Er schließt: „Artmann und
Rühm haben nicht nur den Dialekt für die moderne Dichtung entdeckt,
viel mehr: sie haben Wien wieder entdeckt.“34
Es ist also keine traditionelle Heimatdichtung, ganz im Gegenteil.
Dialekt ist lebendig und in seinem akustischen Ergebnis individuell, er
lebt vom Sprechen und vom Sprecher. Die Niederschrift bei Artmann und
Rühm ist phonetisch. Sie will den Wortlaut möglichst getreu nachbilden.
Die Autoren entschieden sich für das konventionelle Alphabet und verzich-
teten auf ergänzende Hilfszeichen. Das erleichtert das Lesen, denn eine au-
thentische Schreibung hätte zahlreiche zusätzliche Zeichen erfordert Es ist
eine Notlösung. Im Idealfall sollte daher der Veröffentlichung der Texte
eine Lesung beigegeben werden. Dies ist inzwischen z.B. im Fall von Art-
mann geschehen.

Symphonien des Egon Wellesz“, in: Hartmut Krones, Hg., Die österreichische Sym-
phonie im 20. Jahrhundert (Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag, 2005), S. 106.
31 Alfred Schneller, zitiert nach Gerhard Rühm, „dialektdichtung“, in: Derselbe,
Sämtliche Wiener Dialektdichtungen (Graz-Wien: Literaturverlag Droschl, 1993), S.
229.
32 Zitiert nach: ebenda, S. 221.
33 Das Dialektwort „raunzn“ zeigt in den Wörterbüchern eine Breite und Vielfalt an
Übertragungsversuchen ins Schriftdeutsche. Hier umreßt es dasUmfeld miesgrämig
raunen, grummeln, nörgeln, jammern.
34 Zitiert nach Rühm, „dialektdichtung“, S. 228f.

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