Page 368 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
P. 368
glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti

Wellesz sechsmal aus seinen Fachgebieten referierte. Zahlreiche Initiativen
von englischen Freunden um eine rasche Freilassung führten schließlich
zum Erfolg. Einladungen und eine Berufung in die USA, die eine sofortiges
Ende der Internierung bedeutet hätten, lehnte er, wie auch später ab, da er
sich entschlossen hatte, die Insel und seine berufliche Sicherheit nicht auf-
zugeben.

Wellesz hat den Kontakt zur alten Heimat nie aufgegeben. So enga-
gierte er sich in der österreichischen Exilkultur und hielt er ein Referat
an der von Free Austrian Movement veranstalteten II. Kulturkonferenz in
London vom 21. bis 22. Oktober 1944.21 Die in Großbritannien lebenden Ös-
terreicher haben sich während der Kriegszeit im gemeinsamen antifaschis-
tischen Widerstand in verschiedenen Vereinen organisiert.22 Ein Zentrum
für die Kulturschaffenden bildete das im März 1939 u.a. von Elias Canetti,
Oskar Kokoschka und Alma Mahler gegründete Austrian Center in Lon-
don, das keine politische Gruppierung bevorzugte. 1942 vereinigten sich
zahlreiche Organisationen unter der Schirmherrschaft des Free Austrian
Movement, das nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion von
den Kommunisten gegründet worden war.

Vor dem Exil hatte Wellesz insgesamt 59 Opera in allen Gattun-
gen komponiert. Die bedeutsamsten entstanden für die Bühne, darunter
Opern (u.a. Alkestis op. 35, 1922/23, Die Bakchantinnen op. 44, 1928–30) und
Ballette (u.a. Persisches Ballett. op. 30, 1920). Dazu kamen Orchesterwerke
(aber noch keine Symphonien), Solokonzerte, zahlreiche Kammermusik,
Klaviermusik und instrumentale Soloformen, Klavierlieder und Lieder mit
Ensemble- und Orchesterbegleitung, Chorwerke und Kirchenmusik. Nach
Jahren des Schweigens begann bei Wellesz mit dem 5. Streichquartett eine
neue, höchst produktive Zeit, die bis zum op. 112 reichte. Bildete vor dem
Exil das Musiktheater einen Schwerpunkt, so wurde es nun die Instrumen-
talmusik. Wellesz komponierte nur noch eine Oper und zwar auf ein eng-
lisches Libretto: Incognita op. 69 (1949–50). Dafür schuf er seine insgesamt
neun Symphonien sowie u.a. vier weitere Streichquartette. Die meisten die-

21 Konstantin Kaiser, „Kultur und Nation im österreichischen Exil“, in Vertriebene
Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales
Symposion 19. bis 23. Oktober 1987 in Wien (Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann-
Institutes für Geschichtswissenschaften und des Instituts für Wissenschaft und Kunst),
S. 1053.

22 Michael Haas, „Das Austrian Centre und die Anglo-Austrian Music Society“, in:
Michael Haas/Marcus G. Patka, musik des aufbruchs. hans gál und egon wellesz. con-
tinental britons [sic!], S. 87–95.

366
   363   364   365   366   367   368   369   370   371   372   373