Page 371 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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egon wellesz in wien und oxford: stationen eines lebens

Wellesz hat Einstimmigkeit häufig dazu verwendet, um als Kontrast
Aufmerksamkeit zu wecken. Im dritten Satz ist das einprägsame Thema der
Takte 8-10 in der 1. Violine und im Cello zudem zwölftönig gestaltet und
hebt sich auch dadurch klanglich auffallend von der Umgebung ab. Denn
der Satz ist nicht reihenmäßig strukturiert, und die melodischen Gesten
der Eröffnungstakte, die diesen Anschein erwecken könnten. dienen mit
ihren Strukturen nur der Vorbereitung des Themas. Es enthält die seman-
tische Quintessenz dieses In memoriam-Satzes. Mit seiner weiten Interva-
llik und dem Aufschwung am Beginn ist es Ausdruck der Sehnsucht nach
der verlorenen Heimat und den alten Freunden, und wirkt durch die leise
Dynamik und das sul-tasto-Spiel sowie durch die vom a’’ zum c’ absinken-
de Bewegung insgesamt verinnerlicht und resignierend. Es erklingt als un-
begleitetes Unisono an wichtigen Stellen des Satzes wieder.

1. Symphonie
Seine 1. Symphonie op. 62. beendete Wellesz am 1. Januar 1946. Nicht ohne
Einfluß Symphonien zu komponieren, die in den Folgejahren den Schwer-
punkt seines Schaffens bilden, war möglicherweise die in England intensiv
gepflegte Tradition,27 verbunden mit der Erwartung auf Aufführungen, was
sich leider nicht erfüllt hat. Gleichwohl fühlte sich Wellesz in diesem Werk
ganz dem österreichischen Erbe verpflichtet, wozu auch die Atmosphäre
der Erinnerung bei ihrer Entstehung beitrug.

„Im Sommer 1945 gingen wir auf kurzen Urlaub nach Grasme-
re im Norden Englands. Die Gegend erinnert an das Salzkam-
mergut, nur ist alles in kleinen Dimensionen gehalten. Bis ins 17.
Jahrhundert hinein waren dort Gold- und Silberbergwerke in Be-
trieb gewesen, und Österreicher aus dem Vintschgau hatten sich
als Münzenpräger betätigt. An einem Abend kamen mir plötzlich
die Ideen zu zwei Themen symphonischen Charakters. Nach Ox-
ford zurückgekehrt, nahm ich sie vor, und in knapp drei Wochen
war die Skizze einer großen Symphonie in C fertig. Es war die auf-
regendste Arbeit meines Lebens, und ich schrieb gleichsam in ei-
nem Trancezustand…[Das Werk] bedeutet einen neuen Abschnitt
in meinem Schaffen, die geistige Rückkehr zu meinen großen Ah-
nen. Aufgewachsen in der österreichischen Musiktradition, war
mir die Symphonie immer als das höchste Medium der musika-

27 Zu Symphonie-Tradition in England s. Jürgen Scharwächter, Die britische Sinfonie
1914–1945 (Köln: Verlag Christoph Dohr, 1995).

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