Page 107 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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»[d]ie worte [...] schienen noch zu wachsen«

vorletzte Takt eine durch Dehnung erreichte ,Überbindung‘ auf, jetzt von der
dritten zur vierten Schlagzeit bzw. mit der zweiten Hebung.

Die folgende Feststellung beinhaltet auch eine (vielleicht zu weit gehen-
de) Spekulation, soll aber doch als Beobachtung mitgeteilt werden: Die letz-
ten drei Verse (Nr. 6, 7 und 8) hat Hugo Wolf jeweils als Anaklasis gesehen
und daher volltaktig vertont, wodurch jeweils ein besonders wichtiges Wort
bzw. ein von einer bedeutenden Aussage eröffneter Satz einen daktylischen
Versbeginn bildet: »Unwissend«, »willst, ich soll [kecklich]« sowie »reichst
lächelnd«. Und die drei ersten Takte des viertaktigen Nachspiels (NB 7) he-
ben (durch ihren deutlich betonten Synkopen-Beginn) jeweils gleichsam mit
einer Anaklasis an. Liegt hier eine weitere – nicht zuletzt wieder ,metrische‘
– Symmetrie vor ?

Bereits Georg Bieri hat deutlich erkannt, daß Hugo Wolf in seiner »Per­
egrina I« auf rhythmischem Gebiet zu unorthodoxen Mitteln gegriffen hat:
Die ersten Worte schon stemmen sich dem Taktmetrum entgegen. Die Gesangme-

lodie setzt nach dem ersten Schlag ein und verschiebt ihren Akzent auf das zweite
Viertel; dann folgt eine Reihe von meist chromatisch absteigenden Achteln bis ins
es, der nächsten deutlich spürbaren deklamatorisch hervorgehobenen Stelle, auch
diesmal nicht am Taktanfang, sondern eine Zählzeit später. Als Hauptbetonung
empfindet aber der mit der Kunstlieddeklamation Vertraute erst ,Augen‘, und
zwar nicht schon auf der frei hinzutretenden Nebennote g, sondern eindringlich
erst auf dem synkopisch eintretenden f. Die schematische Gliederung innerhalb der
beiden Anfangstakte ist vollständig durchbrochen; die Deklamationshöhepunkte
sind willkürlich verteilt. [...] Auch wo eine Übereinstimmung zweier Takte besteht,
wie zwischen dem dritten und siebenten Takt, ist sie nicht irgendwie durch die Peri-
odisierung, sondern rein deklamatorisch bedingt.18
Unsere Untersuchungen deuten allerdings weder auf eine »willkürli-
che Verteilung« der Deklamationshöhepunkte noch auf eine »rein deklama-
torische« »Übereinstimmung zweier Takte«, sondern auf ein wohldurch-
dachtes ,metrisch-strukturelles Kalkül‘ unseres Komponisten.
Ein letztes Lied soll genauer betrachtet werden: »Lebe wohl« (Nr. 36).
Mörike hat dieses Gedicht als vierfüßigen Trochäus gestaltet, diesmal mit
abwechselnd »männlicher« und »weiblicher« Endung: »,Lebe wohl !‘ Du
fühlest nicht«. Hugo Wolf ließ in seiner Vertonung dann sieben von den acht
Versen der Dichtung synkopisch beginnen, lediglich bei dem Enjambement
vom fünftem zum sechsten Vers hat er den (sozusagen sofort anschließen-

18 Bieri, op. cit., 61ff.

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