Page 109 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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»[d]ie worte [...] schienen noch zu wachsen«

nb 8: »Lebe wohl«, Singstimme T. 1f.
dern zusätzlich – als traditionelle »Suspiratio« – zweimal innerhalb eines
Verses: sowohl zu Beginn nach dem »Lebe wohl!« (NB 8), um das geliebte
Gegenüber erst nach einem Seufzer mit »Du« anzusprechen, und schließlich
zu Beginn der 2. Strophe, ebenfalls nach »Lebe wohl!« Hier wird der Seuf-
zer vor dem »immer gesteigerter« zu singenden »Ach tausendmal« entspre-
chend der Wolfschen Ausführungsanweisung ebenfalls »gesteigert« und zu
drei Achtelnoten ,gedehnt‘ – und: auch zu »tausendmal« erklingt ein ver-
minderter Septakkord; der Sänger ist endgültig »heimatlos«. Bieris Befund
(S. 66), daß die »synkopischen Einsätze« bei Hugo Wolf »am meisten dort
zur Anwendung kommen, wo eine gequälte, schleppende Deklamation vor-
herrscht«, kann – auch angesichts von Wolfs grundsätzlichem Tempo-Hin-
weis »sehr langsam, innig und leidenschaftlich« – voll und ganz zugestimmt
werden. Und auch sein Verweis (S. 89) auf Hugo Wolfs Idol Richard Wag-
ner, der »diese Art der Verwendung der Pausen auch [kannte]«, ist richtig,
muß aber wieder eine Ergänzung finden: Auch Wagner stand in seinen melo-
dischen und harmonischen Gestaltungen voll und ganz in der Tradition der
musikalisch-rhetorischen Figuren, was speziell auch für seine Verwendung
des verminderten Septakkordes gilt.24

Wir könnten noch viele Lieder aus Hugo Wolfs Band »Gedichte von
Eduard Mörike für eine Singstimme und Klavier« in ähnlicher Weise unter-
suchen – fast in allen »Gedichten« werden Synkopen nicht nur für inhalt-
liche Verweise herangezogen, sondern auch für metrische Neusichten, spezi-
elle metrische Akzentuierungen oder doch zumindest für Hervorhebungen
metrischer Besonderheiten des Dichters. Lediglich einige wenige schlicht de-
klamierende Gesänge (wie etwa »Ein Stündlein wohl vor Tag«, Nr. 3) wei-
sen weder Synkopen noch synkopenähnliche Dehnungen auf. Auf der an-
deren Seite scheute sich Hugo Wolf nicht, ein Gedicht, dessen metrische
Bewegung er als dem Inhalt angemessen empfand, gleichsam 1:1 in Musik zu
übertragen, wie dies bei seinem »Jägerlied« (Nr. 4) der Fall ist. Mörike goß
den Text hier in einen völlig gleichmäßig ablaufenden fünffüßigen Trochäus
mit »männlichem« Versende, und Hugo Wolf ordnet nun jeder Silbe eine
Achtelnote zu, den betonten Schlußsilben hingegen eine Viertelnote. Ledig-

24 Hiezu siehe Hartmut Krones, “Zum Weiterleben der Figurenlehre in Richard Wagners Musik-
sprache“, in Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hrsg. Helmut Loos (Beucha–Mar-
kleeberg: Sax, 2013), 151-163, hier 155 und 159f.

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