Page 126 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
Damit ist auch die Spezifik der Musiksprache jener Lieder eng verbunden.
Gerbič verfügte nur über einen eher begrenzten Intonationsvorrat und das
klare traditionelle Ausdruckssystem, dementsprechend über solche Musik-
sprache, welche, erstens, für die Liebhaber gar nicht kompliziert wäre, zwei-
tens, sich auf die bekannten und verständlichen Weisen und Gattungsmo-
delle stützte (gesellige Lieder, Märsche, Tänze, lyrische Volksweisen etc.),
drittens, patriotische Gefühle und die Besinnung auf die national-histo-
rischen Traditionen weckten. Die solcherart Chorlieder waren in mehreren
damaligen nationalen Kulturen präsent, da sie allgemein beliebt und oft gar
symbolisch in den breiteren Schichten verschiedener Völker emfunden sind.

Besonders oft ging diese demokratische Musikkultur als Nationalkunst
der slavischen und balkanischen Völker ein, also solcher, welche um ihre
staatliche Unanbhängigkeit kämpfen begonnen und nationale Identität ge-
stalteten. Deswegen sind einzelne von Gerbičes Lieder aus der analysierten
Sammlung manchen verbreiteten polnischen und ukrainischen Liedern aus
Galizien ähnlich. So, z. B. Zdravljica nach Worten von Fr. Prešeren scheint
dem populären ruthenischen (galizisch-ukrainischen) Lied Der Toast auf den
Rus´ (die Musik von Mychajlo Werbyckyj, das Gedicht von Ivan Huschale-
wytsch) mit der Intonation und dem Rhythmus verwandt sein. Eigentlich
transformierten alle solche Lieder eine gemeinsame Quelle: die Liedertafel,
die doch in jeder Nationalkultur eigenartige Schattierungen kriegte.

Außer der kurzer Skizzierung einziger in Lemberg erfundenen Chor-
sammlung von Gerbič mit dem Autorenautgraph kann man im Allgemei-
nen die kultur-geistige Atmosphere in dieser Stadt rekonstruieren, denn wird
verständlich, warum genau solche Sammlung schenkte Gerbič den ortansäs-
sigen Freund und wie entsprach diese nationale Kulturbewegung in den mu-
sikalischen Formen seinen eigenen nationalen Strebungen und Werten. Es
scheint für das Verständnis der Lebensumgebung von Gerbič in Lemberg
auch ziemlich wesentlich, je mehr, aktives Lemberger Kulturleben mit seiner
zahlreichen liebhaberischen Chöre, rasche Entwicklung verschiedener natio-
nalen Musikgesellschaften als Zeichen der Nationalidentität prägte zweifel-
los den empfindlichen zu solchen Einflußen slovenischen Komponisten und
Sänger.

Die Entwicklungsetappe der Kultur in Galizien in der Zeitspan-
ne 1867–1885 (von der Dezemberverfassung, welche den Ethnien im Ös-
terreich-Ungarn wesentliche Freiheitsrechte gewährte – bis Ende des Ger-
bičes Aufenthaltes in Lemberg) benötigt eine ausführliche Erklärung sowie
die historisch-kulturologische Dimension. Wenn es noch vor dem »Völker-
frühling« und Jahrzehnte später mechanisch die romantische Auffassung

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