Page 127 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
P. 127
die national-kulturellen beziehungen in lviv/lemberg ...
im Kontext der allgemein europäischen künstlerischen Weltanschauung als
ganz normal erscheint, so ist in den folgenden Jahrzehnten zu merken, dass
sich das Bild jeder nationalen Kultur in diesem mehrnationalen Milieu we-
sentlich ändert. In den führenden westeuropäischen Schulen betritt die Ro-
mantik ihre letzte Periode, sich dabei in den eigenartigen spätromantischen
philosophisch-ethischen Egozentrismus (wie in Deutschland) verwandelt
oder erlebt die Evolution, verbindet sich mit den anderen ästhetischen Stilo-
rientierungen und lässt sich in diese (Verismus in Italien oder Naturalismus
und später Impressionismus in Frankreich) verwandeln.

In Galizien blieben die romantischen Tendenzen sowohl in den zahl-
reichsten ukrainischen und polnischen Kreisen als auch in den anderen na-
tionalen Minderheiten (in Galizien lebten damals die Vertreter über 20 ver-
schiedener Nationalitäten, darunter die größten: jüdische, tschechische,
hungarische, armenische, österreichische u.a. Gemeinden) nicht nur stark
und wirksam, sondern inspirierten sie auch einige Entdeckungen in den For-
men des Musiklebens und im kompositorischen Schaffen. Die postroman-
tischen Visionen im Lande ebenso in der ukrainischen wie in der polnischen
Kunst erreichten keine typische Wiederspiegelung und werden der ästhe-
tischen Transformation unterlegt.

In der Musik wie auch in den anderen Kunstarten geht die Entwick-
lung, vor allem in der qualitativen Hinsicht, ausreichend intensiv, bringt ei-
nige Entdeckungen mit herbei. In aller Wahrheit muss man zugeben, dass
diese Entwicklungen auf keinen Fall zu den Ereignissen gehören dürfen, die
im weltlichen Ausmass als »vorrangige« gelten, eher aber zum angewandten
Bereich des Musizierens teilweise als Erbe der vorliegenden Periode d.h. der
ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts und in der Aufklärungstätigkeit von
grosser Bedeutung weiterbleibt. Gleichzeitig kommen neue Akzente in der
ethischen Richtung der Romantik vor, allererst in der Selbstbehauptung der
Nationalideale. Aber die künstlerische Bedeutung des musikalischen Schaf-
fens dieser Periode überschreitet nicht die Regionalgrenzen. Langsam bildet
sich als herrschend der besondere Typ »vom Musiker-Kulturträger, Veranstal-
ter des gesellschaftlich-künstlerischen Lebens«. Die wichtigsten Einheiten,
die die neuen Tendenzen des musikalischen Lebens im Lande verkörpert ha-
ben und zugleich zu einem bedeutenden Anstoss der weiteren Evolution des
Stils galten, sind die Chöre, sowohl liebhaberische als auch berufliche, gewor-
den, dieses Ziel verfolgte auch der im Jahr 1838 gegründete »Verein zur Ver-
breitung der Musik in Galizien« (Towarzystwo dla Upowszechniania Muzy-
ki w Galicji).

125
   122   123   124   125   126   127   128   129   130   131   132