Page 367 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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egon wellesz in wien und oxford: stationen eines lebens

die Sorge um die alten und neuen Freund schufen einen Seelenzu-
stand, der schwer zu schildern ist und die Schaffenskraft vorerst
lähmte. Ich blieb an meinem Schreibtisch und schrieb bis in die
Nach hinein. So entstand ein Buch über ‚Östliche Elemente in der
Kirchenmusik des Westens’. Und ein zweites über ‚Byzantinische
Kirchenmusik’.“18

Es war für einen kontinentalen Komponisten, zumal aus dem Umkreis
der Wiener Schule, damals sehr schwierig, sich in das englische Musikle-
ben einzubringen, worauf Ralph Vaughan Williams hingewiesen hat.19 Zu-
dem waren Noten von Wellesz hier kaum verfügbar. Von den bisherigen
Kontakten auf dem Kontinent war er abgeschnitten, und dort hatte sich die
Situation gravierend verändert.

Neben diesen äußeren Gründen gab auch seine psychische Verfas-
sung Anlaß für diese jahrelange schöpferische Pause. Die Jahre bis zu sei-
ner Naturalisierung im Jahre 1946 wurde durch Monate einer besonde-
renUnsicherheit geprägt, die tiefe Depressionen auslöste und ihn für Jahre
an seiner schöpferischen Arbeit als Komponist hinderte. Denn im Som-
mer 1940 nämlich erließ die britische Regierung die Defence Regulation
18B, die aufgrund des begonnenen Weltkriegs und einer befürchteten In-
vasion Hitlers auf unbestimmte Zeit für „enemy aliens“, also feindstaatli-
che Emigranten angewandt wurde. Sie erlaubte eine Internierung ohne Ge-
richtsverfahren für unbestimmte Dauer. Wellesz kam am 5. Juli 1940 ins
Hutchinson Camp der Ilse of Man, wo er bis zum 13. Oktober blieb.20 Trotz
zahlreicher Einschränkungen im täglichen Leben, darunter eine Rationali-
sierung der Verpflegung, war der Aufenthalt dort nicht unmenschlich und
bot reiche Freizeitmöglichkeiten. U.a. gab es eine Abenduniversität, an der

18 Zitiert nach Schollum, egon wellesz [sic!], S. 49.
19 Ralph Vaughan Williams, „Nationalism and Internationalism (1942)“, in Some Tho-

ughts on Beethoven’s Choral Symphony, with writings on other musical subjects (Lon-
don-New York-Toronto: Oxford University Press, 1953). Eine wichtige Passage zitiert
John Bergsagel, „Egon Wellesz: The Oxford Years“, in: Otto Kolleritsch, Hg., Egon
Wellesz (Studien zur Wertungsforschung 17) (Wien-Graz: Universal Edition, 1986),
S. 24.
20 Peter Revers, „„Es war nicht leicht, sich in die völlig veränderten Verhältnisse ein-
zugewöhnen.“ Emigrationsjahre in Oxford“, in Vertriebene Vernunft II. Emigration
und Exil österreichischer Wissenschaft. Internationales Symposion 19. bis 23. Okto-
ber 1987 in Wien (Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann-Institutes für Geschi-
chtswissenschaften und des Instituts für Wissenschaft und Kunst), S. 616–620;
Marcus G. Patka, „„Friendly Or Enemy Aliens?” Hans Gál und Egon Wellesz im bri-
tischen Internierungslager“, in: Michael Haas/Marcus G. Patka, Hg., Musik des au-
fbruchs. hans gál und egon wellesz. continental britons [sic!], S. 97–109.

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